Vor 491 Jahren

Das Allgäu vor 491 Jahren – Zwölf Artikel

und Bauernkriege (Teil 8)


Das Allgäu ist reich an Schätzen. Die Allgäuer Alpen machen es zu einem einzigartigen Naturraum in Deutschland. Sie bieten so manche Eigenheit, die auf die Entstehungsgeschichte des gesamten Gebirges hinweist. Neben den frühen Steinzeitmenschen und den Kelten hinterließen bereits die Römer in der Antike ihre Spuren in der Region. Egal, ob Kempten nun die älteste Stadt in Deutschland ist oder nicht – diese Hochkultur prägte jede nach ihr folgende Zivilisation. Auch Hildegard, die dritte Frau Karls des Großen, fand im Mittelalter offenbar Gefallen an der Region und förderte das Kloster Kempten. In Memmingen brachten Bauern erstmals in Europa Menschenrechte zu Papier, die unmittelbar mit den  Bauernkriegen zusammenhängen. Später wütete der Dreißigjährige Krieg in der Region besonders heftig und Napoleon hinterließ seine Spuren ebenso wie die beiden Weltkriege. In unregelmäßigen Abständen zeigen wir, wie das Allgäu früher aussah, was hier geschah und ordnen die Region in die Weltgeschichte ein. Teil 8: Zwölf Artikel und die Bauernkriege.

Revolution für die Menschenrechte

 Vor 491 Jahren In Memmingen bringen Vertreter der Bauern die Zwölf Artikel zu Papier und schreiben damit Geschichte


Memmingen Sie diskutieren lange und lebhaft. Was genau die Bauern im März 1525 in der Memminger Kramerzunft sagen, weiß heute niemand. Doch es geht bei den drei

Treffen von 50 Vertretern der sogenannten Allgäuer, Baltringer und Bodenseer Bauernhaufen um nichts Geringeres als um ein neues Gesellschaftsmodell. Denn so wie bisher wollen die Bauern, die damals einen Großteil der Bevölkerung ausmachen, nicht mehr leben. Sie sind zu allem entschlossen.


„Die Bauern aus dem Oberallgäu und vom Bodensee wollen die Versammlung vorzeitig verlassen“, sagt Dr. Hans-Wolfgang Bayer, Leiter des Memminger Kulturamts. Sie sehen keinen Sinn darin, mit dem im Schwäbischen Bund organisierten Adel zu verhandeln und setzen auf weitere Konfrontation in der ohnehin schon hitzigen Situation. Doch beim Abendessen des dritten Verhandlungstages gelingt der Durchbruch. Damit schreiben die Bauern Geschichte: Sie verabschieden die Zwölf Artikel und einen Verfassungsentwurf, die Bundesordnung der Christlichen Vereinigung. Heute gelten diese Schriften als die erste Menschenrechtserklärung der Welt (siehe Infokasten). Sie werden innerhalb kürzester Zeit 25000 Mal gedruckt – eine für damalige Verhältnisse riesige Zahl.


Im Wesentlichen führen drei Faktoren zu den Ereignissen des März 1525: Die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten Süd- und Mitteldeutschlands, Österreichs und der Schweiz wächst stark. Denn das Klima ist günstig und – weit wichtiger – die zuvor verheerende Pest wütet nicht mehr. Dadurch steht jedoch den einzelnen Bauernfamilien weniger Land zur Verfügung.


Zudem fühlen sich die Bauern zunehmend entrechtet: „Die Obrigkeit verlangt immer mehr Abgaben und Dienste, die sie nicht entlohnt“, sagt der Memminger Stadtarchivar Christoph Engelhard. Auch in die bis dahin teils autonomen Strukturen der Dörfer mischen sich die Mächtigen zunehmend ein. Über die Bauern urteilen sie willkürlich.


Als Drittes kommt die Reformation hinzu. Spätestens seit den 95 Thesen Martin Luthers wirbelt diese das bisherige Glaubensgefüge durcheinander. An dieser Stelle kommt Memmingen ins Spiel. Dort predigt seit 1513 der aus Sankt Gallen stammende Reformator Christoph Schappeler. „Zudem verfasst der Laienprediger Sebastian Lotzer Flugschriften und macht die neue Glaubensrichtung damit verständlich“, erläutert Bayer. Lotzer ist eigentlich Kürschner und nach Memmingen zugereist. Er wird auch Schreiber des Baltringer Bauernhaufens, der sich zum Jahreswechsel 1524/25 zwischen Laupheim und Biberach formiert.


Rat zeigt sich aufgeschlossen


Gleichzeitig zeigt sich der Rat der Reichsstadt, in dem die Vertreter der Handwerkszünfte und Großkaufleute sitzen, aufgeschlossen und gesprächsbereit gegenüber den Anliegen der Bauern: Diese müssen weniger Dienste leisten und können sich auf verlässliche Vereinbarungen berufen. Zwar gibt es auch im Memminger Rat Altgläubige, sodass das Gremium in sich gespalten ist. Doch steht die Mehrheit der Reformation positiv gegenüber.


„Es gibt keine Einladung an die Bauern, doch die Stadt gibt ihr Einverständnis zu dem Treffen“, sagt Bayer. Die Zwölf Artikel geben den Unzufriedenen weit über die Region hinaus einen griffigen Forderungskatalog an die Hand. Es entsteht ein neues Gefühl. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Nun verbreitet sich die Revolution wie ein Flächenbrand bis nach Tirol, Franken und Thüringen. Die Aufständischen besetzen Klöster und Burgen. Weder die Bauern, noch der Schwäbische Bund zeigen großes Interesse zu verhandeln.


Das hat laut Bayer und Engelhard auch praktische Gründe, die heute kaum nachvollziehbar wirken: Die Bauern treffen sich im Winter, weil sie in dieser Zeit wenig auf ihren Feldern zu tun haben. Doch bald müssen sie aussäen, für ihre Revolution bleibt nur begrenzte Zeit. Auch der Schwäbische Bund ist auf die Erträge der Bauern angewiesen und kann sich keine lange Konfrontation leisten. Er schlägt die Aufstände blutig nieder. Doch auch gescheiterte Revolutionen haben ihre Wirkung: Trotz ihres Sieges übernehmen die Mächtigen einige Forderungen aus den Zwölf Artikeln, um neue Aufstände zu verhindern.

Ein ungleicher Kampf

Bauernkrieg Die Aufständischen haben keine Chance gegen den Schwäbischen Bund

Allgäu Bereits im Sommer und Herbst 1524 lehnen sich vereinzelt Bauern auf, etwa in Thüringen, Franken und im westlichen Baden-Württemberg. Doch mit den in Memmingen verfassten Zwölf Artikeln entsteht eine flächendeckende Revolution. In dem nun stattfindenden Krieg spielen die Memminger Bauern allerdings keine Rolle, denn sie haben sich mit dem Rat der Stadt geeinigt (siehe Artikel oben).


Zur ersten großen Schlacht kommt es Anfang April in Leipheim bei Ulm. Das Heer des Schwäbischen Bunds unter der Führung von Truchsess Georg von Waldburg, dem sogenannten Bauernjörg, besiegt dort die Aufständischen. Spätestens mit der Weinsberger Bluttat Mitte April radikalisiert sich der Krieg. Der grausame Tod des Grafen Ludwig von Helfenstein und seiner Ritter durch das sogenannte Spießrutenlaufen entfaltet in der Öffentlichkeit seine Wirkung: Bisher unentschlossene Adlige stellen sich endgültig gegen die Bauern.


Diese kämpfen oft mit zu Waffen umfunktioniertem landwirtschaftlichen Gerät. Auf der anderen Seite stehen die gut ausgerüsteten Einheiten der Fürsten und des schwäbischen Bunds mit gepanzerten Reitern und Kanonen. Zudem erheben sich die Zehntausenden Bauern nicht an allen Orten gleichzeitig.


Das Heer des Bauernjörg wirft einen Bauernhaufen nach dem anderen nieder. Entscheidende Schlachten finden unter anderem bei Bad Wurzach (Württembergisches Allgäu), Böblingen (bei Stuttgart) und im thüringischen Frankenhausen statt. Ende Juli besiegt er die letzten Aufständischen im Oberallgäu. In den vier Monaten hat sein Heer gut 1000 Kilometer zurückgelegt.

Der Umbruch kommt langsam

Die nächste Revolution lässt auf sich warten

Allgäu Die Bauern sind mit ihren Forderungen von 1525 früh dran. Zu dieser Zeit macht Europa – ohne das alle Beteiligten es selbst überhaupt wissen – eine große Entwicklung durch: Es geht den Weg vom Mittelalter in die Neuzeit. Das Denken verändert sich und der Mensch entwickelt einen neuen Bezug zu Kunst, Natur und vor allem zu sich selbst.


Doch das geschieht nicht auf einen Schlag. Denn in diese Zeit fallen auch Gräuel wie der Hexenwahn und die Inquisition in Spanien. Auch die Reformation wird noch einmal einen dunklen Schatten werfen: Zwischen 1618 und 1648 tobt in Europa und vor allem in Deutschland der Dreißigjährige Krieg. In diesem Gemetzel, mit dem sich der nächste Teil dieser Serie befasst, laden sich Machtfragen konfessionell auf.


Entscheidung nach 260 Jahren


Auch die Menschenrechte muss sich das gemeine Volk Stück für Stück erkämpfen. Die Zwölf Artikel und der untrennbar mit ihnen verbundene Bauernkrieg sind nur ein Schritt auf diesem Weg. Zwar macht die siegreiche Obrigkeit den Bauern nach ihrem ersten Wüten Zugeständnisse und es bleibt lange Zeit ruhig. Doch über 260 Jahre später wird eine weitere Revolution Europa bis ins Mark erschüttern – diesmal in Frankreich. Sie wird einen jungen Strategen namens Napoleon an die Macht bringen, der die Leibeigenschaft endgültig begräbt.




Die Zwölf Artikel von 1525


1. Jede Gemeinschaft hat ein Recht zu Wahl und Absetzung ihres Pfarrers.

Der Bischof besetzte im Mittelalter Pfarrstellen. Wen er wählte, hing oft von bestehenden Vernetzungen ab.


2. Der Kleinzehnt solle aufgehoben, der Großzehnt für Geistliche, Arme und Landesverteidigung verwendet werden.

Zum ursprünglichen Zehnt war im Mittelalter eine zusätzliche Abgabe an die weltliche Obrigkeit hinzugekommen.


3. Die Leibeigenschaft solle aufgehoben werden.

Bauern mussten ihren Herren zusätzliche Dienste und Abgaben leisten. Zudem waren sie von dessen Zustimmung abhängig in den Fragen, wo sich sie aufhalten und wen sie heiraten.


4. Jagd und Fischerei sollen frei sein. Falls Verkäufe vertraglich belegt werden können, sollen einvernehmliche Regelungen zwischen Gemeinde und Rechtsinhabern angestrebt werden.


5. Wälder und Forsten sollen in Gemeindehand zurückgegeben werden. Sollten Verträge bestehen, werden gütliche Vereinbarungen mit den Forstinhabern angestrebt.

Nur die Obrigkeit durfte jagen und fischen. Sogar Brenn- und Bauholz durften die Bauern nur eingeschränkt aus den Wäldern beschaffen.


6. Die Frondienste sollen auf ein erträgliches Maß reduziert werden, orientiert an Herkommen und Evangelium.


7. Außervertragliche Frondienste sollen nicht zugelassen sein, es sei denn gegen eine angemessene Vergütung.


8. Die Abgaben der Bauern sollen durch „ehrbare Leute“ neu eingeschätzt werden.

Das Maß der Frondienste führte oft zum Streit.


9. Die Strafmaße für schwere Vergehen sollen neu festgesetzt werden, orientiert an älteren Gerichtsordnungen.

Viele Strafen waren willkürlich.


10. Ehemalige Gemeindewiesen und -äcker sollen zurückgegeben werden, es sei denn, dass Kaufverträge vorgelegt werden können.

Die Obrigkeiten hatten sich zum Leidwesen der Bauern Weiden, Wälder und Fischgewässer angeeignet.


11. Die Zahlung des Todfalls belastet die Erben ungebührlich und wird deswegen zukünftig verweigert.

Starb ein Hofinhaber, mussten die Erben eine zusätzliche Abgabe leisten.


12. Alle Forderungen ergeben sich aus dem Wort Gottes. Sollten sie sich durch die Schrift als unberechtigt erweisen, sollen sie hinfällig sein.



Quellen:

Dr. Hans-Wolfgang Bayer und Christoph Engelhard, Kulturamt und Stadtarchiv Memmingen;

Peter Blickle: Die Revolution von 1525;

Heide Ruszat-Ewig: Sebastian Lotzer – 5 Flugschriften aus der Reformationszeit;

planet-wissen.de;

Hans-Christian Huf: Unterwegs in der Weltgeschichte;

Materialien zur Memminger Stadtgeschichte



Fotos: Waldburg-Zeil'sches Gesamtarchiv Schloß Zeil, Eberhard

Erschienen am 15. April 2016 in der Allgäuer Zeitung