Vor 9000 Jahren

Das Allgäu vor 9000 Jahren – Die Steinzeit


Das Allgäu ist reich an Schätzen. Die Allgäuer Alpen machen es zu einem einzigartigen Naturraum in Deutschland. Sie bieten so manche Eigenheit, die auf die Entstehungsgeschichte des gesamten Gebirges hinweist. Neben den frühen Steinzeitmenschen und den Kelten hinterließen bereits die Römer in der Antike ihre Spuren in der Region. Egal, ob Kempten nun die älteste Stadt in Deutschland ist oder nicht – diese Hochkultur prägte jede nach ihr folgende Zivilisation. Auch Hildegard, die dritte Frau Karls des Großen, fand im Mittelalter offenbar Gefallen an der Region und förderte das Kloster Kempten. In Memmingen brachten Bauern erstmals in Europa Menschenrechte zu Papier und lösten damit die Bauernkriege aus. Später wütete der Dreißigjährige Krieg in der Region besonders heftig und Napoleon hinterließ seine Spuren ebenso wie die beiden Weltkriege. In unregelmäßigen Abständen zeigen wir, wie das Allgäu früher aussah, was hier geschah und ordnen die Region in die Weltgeschichte ein. Teil 2: Die Steinzeit.

Das perfekte Sommerlager

 Vor 9000 Jahren Steinzeitmenschen finden über dem Kleinwalsertal ideale Bedingungen zur Jagd und richten sich ein


Kleinwalsertal Die Sonne wärmt das Sommerlager auf über 1500 Metern Höhe. Ein riesiger Felsüberhang schützt es vor Wind und Regen. Zudem staut sich wenige Schritte entfernt das einzige Gewässer weit und breit. Der Tümpel versorgt eine steinzeitliche Sippe mit Wasser und lockt das Vieh an, das im Sommer in die Berge mit ihren nährstoffreichen Pflanzen wandert. Wenn die Hirsche vor ihrer Haustür trinken, stellen die Menschen eine tödliche Falle: Eine Gruppe stürmt aus dem direkt unter der Stelle beginnenden Wald und treibt das Wild nach oben. Dort verengt sich das Gelände wie ein Flaschenhals und die Falle schnappt zu.


„Dieser Felsen ist eine Ausnahmestelle“, sagt Detlef Willand. Rund 9000 Jahre nachdem die ersten Menschen sich dort einrichten, findet er das Lager. Der nahe Wald versorgt die Steinzeitmenschen mit Pflanzen, während sie dank freier Sicht im baumlosen Gelände besser jagen können. Sie bohren Löcher in den Boden vor dem Überhang und platzieren darin Pfosten, über die sie Astgeflecht und Tierhäute spannen. Unten errichten sie ein Mäuerchen, sodass ein Wohnraum entsteht. Doch wie viele der heutigen Touristen, bleiben sie nur saisonal im Kleinwalsertal. Mit dem Winter sinken die Überlebenschancen, sodass sie sich in die milderen Gebiete der Iller- und Donau-Auen zurückziehen – immer dem Wild hinterher.


Heute, nach Jahren mühevoller Arbeit, lässt sich das Leben an dieser Stelle gut nachvollziehen. Das verdeutlicht, wie es damals an vielen Orten im Allgäu aussehen könnte. Ähnlich günstige Bedingungen wie auf der heutigen Schneiderküren Alpe über dem Ort Hirschegg herrschen etwa an den Hörnern zwischen Balderschwang und Ofterschwang oder an der Nagelfluhkette.


Feuer und Wasser


„Natürlich“, sagt Willand, „kann die Fantasie auch mal mit einem durchgehen.“ Aber viele Erklärungen sind schlüssig: An einer ausgeprägten Wölbung im Felsdach bröckelt der Fels besonders stark. Dort lodert vor Jahrtausenden das überlebenswichtige Feuer, dessen Hitze dem Kalkstein in Verbindung mit Nässe stark zusetzt. Auch heute formen Steine an diesem Platz eine Feuerstelle und ein simpler Versuch beweist, dass die Wärme sich optimal im Lager verteilt.


Und dann ist da noch das Wasser. Nirgends auf dem weiten Gottesackerplateau, nördlich des wie ein havariertes Schiff daliegenden Hohen Ifens (2230 Meter), findet sich Wasser. Es versickert einfach im von Rissen und Spalten übersäten Schrattenkalkboden. Doch genau am Schneiderküren bildet weniger durchlässiger Grünsandstein den Untergrund und staut den kleinen See auf. Ebenso fließt ein Rinnsal vor dem Lager. Willand nennt es „einen natürlichen Abfluss“. Die Steinzeitmenschen werfen ihre Reste dort hinein. Darunter befindet sich Radiolarit, besser bekannt als Feuerstein.


Eine wahre Schatzgrube für Archäologen. Während der Ausgrabungen finden sie mehr als 7000 Feuersteinstücke: Vor allem Splitter die entstehen, wenn jemand ein Werkzeug aus dem roten oder grünlichen Stein schlägt. Auch misslungene Werkstücke oder Geräte zweiter Wahl tauchen auf. Sie zeigen, was die Steinzeitmenschen herstellen: Klingen, Kratzer, Speerspitzen, Widerhaken und vieles mehr. Der Werkstoff Stein ist über Jahrtausende so wichtig, dass heute die ganze Epoche nach ihm benannt ist. All diese Funde formen ein Bild, wie eine Alltagsszene damals aussehen könnte: Die in Pelze gehüllten Menschen bearbeiten die Steine außerhalb der Behausung, damit es innen sauber bleibt. Sie schlagen die harten Radiolaritstücke auch aufeinander, bis Funken sprühen und im Innenraum das Feuer brennt – diese Fähigkeit bildet einen Meilenstein in der Entwicklung des Menschen. Auch teilen sich die frühen Bewohner des Kleinwalsertals vermutlich ihre Arbeiten systematisch auf: Jagen, Sammeln, Werkzeuge herstellen und Beute verarbeiten. Was zu dieser Zeit geschieht und in den kommenden Jahrtausenden immer ausgefeilter wird, nennt die heutige Wirtschaftssprache vornehm Innovationsschübe. Der Mensch kultiviert Pflanzen, zähmt Tiere, baut Städte und erfindet vor rund 3000 Jahren das Rad. Von der Steinzeitbehausung am Schneiderküren ist es noch ein weiter Weg zu den Hochkulturen Europas. Doch der Mensch geht ihn unaufhaltsam.

Wie Fred den Feuerstein fand

 Bergwerk Die Steinzeitmenschen bauen im Kleinwalsertal Material ab

Kleinwalsertal Wer nicht gerade ein geübter Bergsteiger ist, hat seine Mühe sich den steilen Hang hochzuarbeiten. Nur ein hauchdünner Pfad, der immer wieder unter üppigem Grün verschwindet, windet sich die Grasflanke hoch. Nahe einer Abbruchkante zu einem Wildbach erschweren nasse Felsen das Vorankommen zusätzlich und sorgen kurzzeitig für Absturzgefahr – gute Bergstiefel scheinen an diesem Hang unverzichtbar zu sein. Doch bereits vor rund 9000 Jahren steigen Menschen durch das Steilgras, ganz ohne Trekkingstöcke und Profilsohle.


Wozu der Aufwand? Das Objekt der Begierde heißt Radiolarit oder Feuerstein. Spätestens seit Fred Feuerstein und seine Familie in den 1960er-Jahren über die Fernsehbildschirme flimmern, ist der Name dieses Gesteins untrennbar mit der Steinzeit verbunden. Erst viel später lösen Metalle wie Bronze oder Eisen es als Werkstoff ab und fungierten als Namenspaten für die folgenden Epochen. Das Rohmaterial beeinflusst die Entwicklung des Menschen also entscheidend. Ungünstig für den gemeinen Steinzeitler ist allerdings, dass guter Radiolarit nicht leicht zu finden ist.


Doch auf rund 1600 Metern Höhe an diesem Steilgrashang im Widdersteinmassiv betreiben die Sippen, die im Sommer zur Jagd ins Kleinwalsertal kommen, eines der ersten Bergwerke der Alpen. Ihre scharfe Beobachtungsgabe muss ihnen geholfen haben, diese Feuersteinader zu finden. „Sie haben die Steine wahrscheinlich in der Iller gefunden“, sagt Karl Keßler, der zusammen mit DetlefW illand die ersten Grabungen im Gebiet unternommen hat. Doch die Steine, die der Fluss transportiert, taugen nicht dazu, Werkzeuge und Waffen daraus zu schlagen. Die findigen Menschen folgen also der Breitach, die in die Iller mündet. An ihren Zuflüssen rund um den großen Widderstein entdecken sie schließlich noch mehr roten und grünlichen Stein, den besten davon an den steilen Berghängen.


Heutzutage mag es schwer sein, die Aufregung um ein paar Steine nachzuvollziehen. Doch ein großer Teil dessen, was den Steinzeitmenschen das Leben erleichtert, stellen sie aus Radiolarit her. Und es steckt noch mehr dahinter: Der Mensch, der verstärkt nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung handelt, weiß um den Wert des Rohstoffs. Um abgenutzte oder verlorene Waffen und Werkzeuge ersetzen zu können, legt er Depots entlang seiner Marschrouten an. Zudem handeln die Stämme untereinander, wobei Feuerstein eine große Rolle spielt.


Lust und Frust bei Ausgrabung

Wie die Funde zustande kamen

Kleinwalsertal Die Walser waren im 13. Jahrhundert nicht die Ersten, die in das nach ihnen benannte Tal kamen, ist Detlef Willand sich schon immer sicher. Der Künstler und Autor liefert auch den Beweis dafür. Am Pfingstmontag 1998 wandert er in Richtung Gottesackerplateau am Hohen Ifen. Dabei fällt ihm der Felsüberhang auf der Schneiderküren Alpe als idealer Biwakplatz auf.


Willand sucht die Erde unter dem Felsdach ab und stößt dabei prompt auf Abschläge von Feuersteinen. Er zeigt die Funde Walter Leitner vom Institut für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Innsbruck, der seinen Verdacht bestätigt: Sie stammen eindeutig aus der Steinzeit. Das motiviert Willand. Gemeinsam mit anderen Walsertalern sieht er sich den Platz genauer an. In wenigen Tagen finden sie ein ganzes Inventar an kleinen Geräten aus Feuerstein, was wiederum die Uni Innsbruck auf den Plan ruft. Gemeinsam mit den Walsertalern legen Leitner und seine Studenten in drei Sommern die Fundstelle frei. Noch heute denken Willand und der inzwischen pensionierte Schulleiter Karl Keßler mit einem Schmunzeln an die Arbeit zurück. Denn es entstehen ein Lust- und ein Frustgraben: Oben stellt sich die Suche als frustrierend heraus. Unten dagegen hat das Wasser durch Regen und Schneeschmelze jede Menge Interessantes angespült. Doch diese Ausgrabungen sollten nicht die letzten im Kleinwalsertal sein. Ab 2004 rückt ein Berghang im Widdersteinmassiv in den Fokus der Forscher.



Quellen:

Walter Leitner: Der Felsüberhang auf der Schneiderkürenalpe;

Spuren zum ältesten Bergwerk in den Alpen;

Detlef Willand; Karl Kessler;

Franz Hieble: Naturerlebnis Allgäuer Berge;

Brockhaus;

Hans-Christian Huf: Unterwegs in der Weltgeschichte;

Lingen: Noch mehr Wissen über die Weltgeschichte – Band 1 Altertum



Erschienen am 7. Julil 2015 in der Allgäuer Zeitung