Olympiadorf

Das etwas andere Dorfleben

Wo 1972 Weltgeschichte geschrieben wurde, leben heute über 8000 Menschen.

Ein Besuch im Olympiadorf

München Über den Straßen verlaufen farbige Rohre – in Gelb, Grün, Blau oder Weiß. Über Straßen, die eigentlich gar keine richtigen Straßen sind. Es fahren keine Autos darauf. Und die Rohre? Ein Anwohner bringt Licht ins Dunkel: „Das sind Medialeitungen.“ Durch sie sollten ursprünglich Strom und Wasser hindurchfließen. Dazu kam es allerdings nie. Sie erfüllen nur künstlerische Zwecke. Und bringen irgendwie auch Licht ins Dunkel. Denn an den Rohren ist die Straßenbeleuchtung montiert. Und Besucher können sich an ihnen orientieren. Jede der verschachtelten Straßen im Münchener Olympiadorf hat eine eigene Farbe. Sie sind eine von vielen Besonderheiten in dem Komplex, der für die Olympischen Spiele 1972 gebaut wurde.


 

Mittlerweile ist das Dorf ein Stadtteil Münchens. Gleiches ist auch für das neue Olympiadorf geplant – vorausgesetzt, die mit endlos vielen Problemen behaftete Bewerbung für die Winterspiele 2018 führt doch noch zum Erfolg. Die Siedlung soll auf einer Fläche der Bundeswehrverwaltung entstehen, gleich neben dem Olympiagelände im Norden der Stadt. In der Nähe steht auch das Athletendorf von 1972. Das Berliner Architektenbüro Léon Wohlhage Wernik hat jetzt den Planungswettbewerb für das neue Gebiet gewonnen. Vorgabe der Bewerbungsgesellschaft war, dass es Platz für 3500 Athleten und Funktionäre bietet. Nach den Spielen soll es als neuer, komplett barrierefreier Wohnraum mit etwa 880 Einheiten vermarktet werden.


„Wir wollten eine neue Wohnform entwerfen“, sagt Architektin Hilde Léon. Das soll gelingen, indem das Dorf möglichst viele Grünflächen bekommt. Mehr, als in der Ausschreibung verlangt wurde. Die Olympiagegner des Aktionsbündnisses NOlympia rechnen trotzdem damit, dass mindestens 1280 von insgesamt 2630 Bäumen gefällt werden müssen.


Die Häuser haben die Architekten mit jeweils sieben oder 15 Stockwerken geplant. Ihre elliptische Form birgt Léon zufolge eine weitere Besonderheit: „Sie führt dazu, dass sich das Dorf verändert, wenn man sich hindurchbewegt.“ Denn die Gebäude sollen in verschiedenen Winkeln zueinanderstehen. Je nach Standort des Beobachters sind sie mal breit, mal schmal. Zudem sind die Bauten so geplant, dass die Bewohner von jedem Zimmer aus den Balkon betreten können. Kritiker sprechen dagegen von einer „ziemlich klotzigen Wohn-Architektur“.


Noch existiert das Olympiadorf nur auf dem Reißbrett. Das Dorf von 1972 ist Realität. Auch so ein spezielles Wohnmodell. So speziell, dass das gesamte Ensemble unter Denkmalschutz steht, obwohl es erst vier Jahrzehnte alt ist.


Früher war es als Betonwüste und Geisterstadt verschrien. „Wohnoase“ nennen es viele Bewohner heute. Zwischen den Straßen ist viel Grün, wenn nicht gerade Schnee liegt, und es gibt einen See. Das ganze Dorf steht auf Stelzen. Autos parken nur unter den Häusern. Oben ist kaum ein Motorengeräusch zu hören – nur in der Nähe der Wendeltreppen, die zu den Fahrstraßen hinunterführen. Unten an den Stützpfeilern sind Farbmarkierungen und Nummern zu finden. Die Farben sind die gleichen wie die an den Medialeitungen, zwei Etagen höher. Die Nummern weisen darauf hin, welche Adressen über dem jeweiligen Aufgang zu finden sind.


 

Eine Treppe führt zur orangefarbenen Straßberger Straße. Dort wohnt Karl Heinz Summerer. Das Haus mit der Nummer 18 sieht aus wie alle anderen: Hellgrau, viele Stockwerke und wie ein Siegertreppchen nach oben immer schmaler werdend. Der Mann in der Wohnung wirkt gebrechlich. Seine rechte Hand zittert. Seine Stimme ist schwach. Er hat Parkinson. Summerer aber kennt die Geschichte des Dorfes wie kein anderer. Er erinnert  sich genau an vier Jahrzehnte alte Details. Summerer war Pfarrer. Schon einige Monate vor Beginn der Sommerspiele lebte der heute 72-Jährige hier. Zuerst hat er die Sportler betreut, dann eine neue Gemeinde aufgebaut. „Nach den Spielen hat es etwa drei bis vier Jahre gedauert, bis alle Wohnungen belegt waren“, sagt er. Die Schlagzeilen aus diesen Jahren reichen von „Kaum ein Viertel der Wohnungen ist verkauft“ über „Im hässlichen Olympiadorf wohnt offenbar jeder gern“ bis „Im Olympiadorf gibt’s keine Wohnungen mehr“.


Auch an die Zeit, in der in München Weltgeschichte geschrieben wurde, erinnert Summerer sich gut. „Die Olympischen Spiele waren unwahrscheinlich gut vorbereitet“, erzählt er. Neben zwei Kirchen gab es dort eine Synagoge und einen Gebetsraum für Moslems. Doch die heitere Veranstaltung wurde zerrissen. Genau hier brachten palästinensische Terroristen elf israelische Sportler in ihre Gewalt. Bei dem Attentat und der gescheiterten Befreiungsaktion kamen 17 Menschen ums Leben. „Das war ein Strich durch die ganze fröhliche Stimmung“, sagt Summerer und starrt dabei ins Leere. Mehr will er darüber nicht erzählen.


 

Das Verbrechen ereignete sich am Ende der Conollystraße. Dort sind die Medialeitungen blau. Wer ihnen dorfeinwärts folgt, steht am Ende an einem großen Platz. Eine Rampe führt hinunter zu einer Ansammlung unzähliger kleiner Bungalows. Früher wohnten dort Athletinnen, heute über 1000 Studenten. Noch mal so viele leben in einem der treppenförmigen Hochhäuser, das zurzeit saniert wird. „Gerade in der Bungalowsiedlung gibt es ein starkes Wir-Gefühl“, sagt Thomas Anzill, Vorsitzender des Vereins Studenten im Olympiazentrum. Jeder hat dort sein eigenes, rund 20 Quadratmeter großes Reich. Anders als im Hochhaus, wo alle dicht an dicht leben, habe man dort nicht das Gefühl, die Privatsphäre des anderen zu stören.


Zurück am Dorfplatz weisen farbige Leitungen wieder den Weg in die verschiedenen Straßen. Nach Norden verläuft die Ladenstraße mit Bäckern, Apotheken, Supermärkten, Banken und einer Kneipe – eben mit allem, was zur Infrastruktur eines Dorfes gehört. Dass es die Geschäfte auch in Zukunft noch gibt, dafür setzt sich die Einwohner-Interessen-Gemeinschaft, kurz EIG, ein. „Der ursprüngliche Gedanke der EIG war, dass die Wohnungseigentümer gemeinsam rechtliche und bauliche Probleme lösen, die sich aus der hektischen Bauphase vor den Spielen ergeben haben“, erzählt die Vorsitzende Manuela Feese-Zolotnitski. Heute kümmert sich die EIG um nahezu alle Anliegen der Bewohner.


Doch wer, außer den Studenten, ist das eigentlich? „Es wohnen viele Menschen aus gehobenen Berufen im Olympiadorf“, weiß Feese-Zolotnitski. Sie ist selbst technische Angestellte und denkt, dass viele sich „vom durchdachten Konzept“ des Dorfs angezogen fühlen. „Die Hälfte sind Architekten“, scherzt sie. Wie viele andere junge Akademiker hätten sie dort nach den Spielen günstige Wohnungen gekauft. Und sind geblieben. Dafür gebe es viele Gründe, findet Feese-Zolotnitski. „Weil keine Autos fahren, können die Kinder vor der Wohnungstür spielen“, sagt die zweifache Mutter. Auch Senioren und Behinderten biete das Dorf Vorteile: „Es ist barrierefrei, diese Architektur war damals zukunftsweisend“, lobt Feese-Zolotnitski.


Das denkt auch Herbert Hantelmann, Geschäftsführer der Olympiadorf-Betrieb Beteiligungsgesellschaft. Die Organisation pflegt Grünanlagen und den See, kümmert sich um den Winterdienst und die Müllentsorgung. Der Müll, das ist auch so eine Besonderheit. Die Bewohner müssen ihren Abfall nur in einen Schacht werfen. Dort wird er abgesaugt, verdichtet und dann abtransportiert. Es muss also keine Müllfabfuhr ins Dorf. Rund 130 Euro Nebenkosten fallen einem durchschnittlichen Haushalt für die Arbeit der Gesellschaft an. Hantelmann vermutet, dass noch etwas anderes einen besonderen Menschenschlag anzieht: „Jeder hat das Gleiche. Es gibt keine Angeberei.“ Die Wohneinheiten unterscheiden sich von außen kaum und niemand sehe, ob ein Porsche oder ein Kleinwagen vor der Tür steht. „Der Nachbar ist einfach der Nachbar.“

Unterschiede gibt es nur in den Wohnungen. Ihre Besitzer konnten die Grundrisse selbst gestalten. Im Zuhause von Karl Heinz Summerer bilden Bad, Toilette und Abstellkammer beispielsweise ein Quadrat in der Mitte. Außen herum liegen der Flur und die anderen Zimmer. „Ich mag das Dorf. Ich fühle mich hier wohl“, sagt Summerer an diesem tristen Tag. Das Wetter erinnert ihn an die erste Zeit im Dorf. Was er in den grauen Betonklötzen wolle, hätten ihn die Leute damals gefragt. Aber er empfand es nie als grau. „Man kann entweder die Bäume oder das Grau sehen“, sagt er und blickt aus dem Fenster. Er sieht die Bäume.



Erschienen am 30. Dezember 2010 in der Augsburger Allgemeinen