Ein Tal, zwei Welten
Die Brenta und die Paganella haben das Zeug, um jeden zu begeistern: Bergen
voller touristischer Angebote liegt ein wildes Massiv steinerner Türme und Plateaus
gegenüber, in dem sich neben Allround-Alpinisten auch Bären wohlfühlen.
Größer könnte der Unterschied kaum sein. Am ersten Tag im Trentino geht es bequem per Gondel zur Paganella und nach nur wenigen Minuten in den top abgesicherten Sportklettersteig Via Ferrata delle Aquile. Ehe der letzte Schlaf aus den Augen gerieben ist, gähnt mehr als ein Kilometer Abgrund unter den Füßen. Auf der anderen Seite des Tals: Stille. Das Knirschen des Dolomitgesteins am Sentiero Brentari unter den Füßen hallt als einziges Geräusch durch das Labyrinth senkrechter Felswände, wuchtiger Plateaus und eleganter Türme. Nur wenige Drahtseile, oft auch mal etwas älter, entschärfen schwierige Passagen. In dunklen
Nischen zwischen Zwei- und Dreitausendern verstecken sich kleine Gletscher. Bergsteiger begegnen in der Brenta selbst am Wochenende deutlich seltener Gleichgesinnten als an der Paganella.
Es sind noch nicht einmal 15 Kilometer Luftlinie, die diese beiden Welten trennen. Auf der Westseite ragt das steinerne Natur-Kunstwerk namens Brenta aus dem dichten Wald. Mit seinen Klettersteigen, -touren und alpinen Wanderwegen ist es ein Dorado für Alpinisten. Der zerrissene Gebirgsstock hat so wilde Ecken, dass sich dort noch ganz andere Zeitgenossen mit einem dicken Fell wohlfühlen – Bären. »Das westliche Trentino ist Bärenland«, erzählt Naturpark-Ranger Matteo Zeni im menschenleeren Val di Ceda. Doch dazu später.
Im Osten erschließen Skilifte das auf dieser Seite sanfte Paganella-Massiv. Hier sind die Tourenziele schnell zu haben. Der Weg vom Refugio La Roda an der Bergstation des Lifts (2118 m) zur neuen Via Ferrata delle Aquile wird dem Namen »Zustieg« nicht gerecht. Er führt bergab, an einer riesigen Wetterstation vorbei. Deren Antennen sehen aus, als ob die Italiener damit den Kontakt zu Außerirdischen herstellen wollen.
Die sanfte Paganella
Zugegeben, die neue Route zieht sich als reiner Sportklettersteig durch die Wand, mit nichts anderem im Sinn als Spaß. Ob das nicht ohnehin der Zweck des Bergsteigens ist, sei dahingestellt. Aber der Eisenweg erklimmt weder eine Wand, noch macht er einen Kletter-Klassiker für Normalbergsteiger zugänglich. Er traversiert schlicht einen gigantischen Abbruch, während wenige Meter darüber ein bequemer Weg durch Latschengelände vom Start- zum Zielpunkt führt. Ob das gefällt oder nicht, bleibt Geschmackssache. Wer sich drauf einlässt, findet eine nette Trainingsrunde vor.
An diesem Vormittag kraxelt zum Beispiel Gavin Taylor durch den Steig. Der routinierte Bergsteiger klickt sich zügig durch die Sicherungsabstände des Stahlseils. Er klettert ab, quert und erzählt, was für ihn die Faszination des Trentinos ausmacht. Weil am Wochenende viel los ist im Erlebnis-Klettersteig, staut es sich immer wieder. Auf einem schmalen Band, einen Kilometer über dem nächsten waagerechten Stück Erde, ergibt sich die Gelegenheit für einen Plausch. »Ich bin vor zwölf Jahren hierhergezogen «, sagt der 54-Jährige, der aus Edinburgh stammt. Zuvor wohnten er und seine italienische Frau in Modena. Aus der senkrechten Wand der Paganella deutet er direkt auf seine Wahlheimat nahe Trient im diesigen Etschtal. Dort genießt er nicht nur das Wetter, das jenes in seiner schottischen Heimat um Längen schlägt, und die Nähe zu Urlaubsparadiesen wie dem Gardasee. Nein, es ist die Nähe zur wilden Brenta mit all ihren alpinen Herausforderungen, die den leidenschaftlichen (Eis-)Kletterer reizt.
Eis gibt es dort auch im tiefsten Sommer. Der Gletscherrest zu Füßen der gewaltigen Felswände der Cima d‘Ambiez macht Bergsteigern ohne Steigeisen zu schaffen: Eine Rutschpartie könnte unsanft in einer der kleinen Spalten enden. Eine Bergführerin seilt ihre Gäste daher auf dem letzten Schotter an. Was für ein Szenenwechsel! Am Vortag war trotz Stau im Klettersteig noch Zeit für eine Biketour am Nachmittag. Nach dem zustiegslosen Herumturnen an perfekten Sicherungen weckte das Türkis des Molvenosees auf Radtour Gefühle wie im Badeurlaub. Und jetzt das: Eis knackt unter den Füßen, Wolken wabern zwischen archaischer Felswildnis und verleihen dem Moment etwas Dramatisches. Am anderen Ende des Gletschers wartet der klassische Sentiero Brentari.
Natürlich ist auch die Brenta keine Terra incognita. Auch hier lassen sich Zustiege abkürzen, beispielsweise mit Liften von Molveno aus oder mit dem abenteuerlichen Taxi-Service auf extrem schmaler Piste im Val d‘Ambiez. Trotzdem verlangt das Massiv denjenigen, die zu seinen Spitzen vordringen wollen, lange Anmärsche und zahlreiche Höhenmeter ab. Die Frage, ob die Brenta zu den Dolomiten gehört oder nicht, lässt sich auch vor Ort nicht restlos klären. Geografie-Puristen sagen nein: Das Etschtal trenne den Gebirgsstock von jenem Alpenteil, der Bergsteigerherzen in aller Welt höher schlagen lässt. Höher schlagende Herzen wollen Touristiker wie Luca D‘Angelo aber erreichen und sprechen daher von den Brenta-Dolomiten. Er hat das Potenzial der Gegensätze erkannt. »Es gibt nicht die eine Sehenswürdigkeit, das Gesamtpaket macht es aus: Seen und Biketrails, die durch viele Seilbahnen gut erschlossene Paganella auf der einen Seite und die wilde Brenta auf der anderen«, schwärmt er. So zu sprechen, ist zwar sein Job, doch der Praxistest bestätigt es: Felskare und -türme, Klettersteige und Couloirs sorgen für Dolomitenfeeling.
Für Touren von Süd nach Nord beginnt das Wandern spätestens ab dem Rifugio al Cacciatore (1820 m). In Serpentinen führt ein Pfad durch spärlichen Baum- und Latschenbestand auf ein grüngraues Hochplateau. Der Blick schweift dort unweigerlich auf die abweisenden, für Kletterer aber einladenden Wände der Cima d‘Ambiez. Auf dem letzten Grün davor sitzt die Agostini-Hütte (2405 m). Sie dient als hochgelegener Stützpunkt für Kletterer wie Luca Cornella. Der Bergführer gehört zu jenen Menschen, die an keiner Wand vorbeigehen können, ohne auf ihre schönsten Kanten und Verschneidungen aufmerksam zu machen. Wann immer es geht, erschließt und wiederholt der 34-Jährige Routen in den vertikalen Weiten der Brenta. Dazwischen genießt er die üppigen Brotzeitplatten auf dem Rifugio Silvio Agostini.
Auf die Cima Tosa
So schön es an dieser Hütte auch ist, enden soll dieser Tag in den Lagern des Rifugio Tosa Pedrotti. Der Weg dorthin führt über den Sentiero Brentari mit einem Abstecher auf Ihre Majestät, die Cima Tosa. Der erste Berührungspunkt mit den Eisen des Klettersteigs wartet nahe des Gletschers. Dort hilft ein Fixseil, sich über den steilen Firn am Rand hochzuziehen, um in die senkrechte Wand einzusteigen. Den visuellen Höhepunkt der Tour stellt der später folgende lange Quergang auf fast 2900 Metern Höhe dar: Ein Schuttband bietet beiden Füßen nebeneinander Platz, sodass der Blick etwas schweifen kann. Hängen bleibt er dabei an der Campanile Basso, auch als Guglia di Brenta bekannt. Steil ragt die Nadel in den Himmel. Ihr Normalweg ist mit Schwierigkeitsgrad V bewertet. 1911 schrieb Paul Preuß dort mit seinem Alleingang – heute würde man es Free Solo nennen – ein Stück Alpingeschichte.
Der Blick auf diesen kühnen Zapfen und auf so viele andere faszinierende Spitzen weckt die Lust auf ein eigenes Gipfelerlebnis. Am Sentiero Brentari drängt sich die Cima Tosa dazu förmlich auf. Der Klotz erdrückt Begeher des hochalpinen Wegs geradezu, steigen sie doch durch die Flanken des ehemals höchsten Bergs der Brenta. Ehemals, weil neue Karten seine Höhe nur noch mit 3136 Metern angeben – schuld ist das geschmolzene Eis. Damit überragt die weiter nördlich gelegene Cima Brenta ihn nun um 15 Meter. Zahlen hin oder her – die Cima Tosa mit ihrem gigantischen Plateau zieht Bergsteiger magnetisch an. Der Normalweg (bis II) auf der Ostseite beginnt direkt am Sentiero Brentari. Auf der Südseite stellt ein Einschnitt eine Schwachstelle dar. Zwei Seillängen führen dort durch IIIer- bis IVer-Gelände, bevor es an einer eingebohrten Abseilstelle deutlich einfacher wird. Über Schuttbänder geht es im Zickzack hinauf, bevor die kleine Madonna auf der Nordostseite der Gipfelfläche das Ende markiert. Natürlich öffnet sich dort ein irrer Blick auf nahe und ferne Ziele. Ganz in der Nähe saugt die Tiefe der nur wenige Schritte entfernten Nordwandrinne »Canalone Neri« an den Nerven. Im Westen begrenzt die Adamellogruppe den Horizont.
Wie geplant endet der Tag im Rifugio Tosa Pedrotti, wo Franco Nicolini mit einem Lächeln im wettergegerbten Gesicht seine Gäste begrüßt. Die Hütte ist nicht nur wegen ihrer grandiosen Lage einen Besuch wert. Die Wirtsfamilie hat abenteuerliche Geschichten auf Lager: Tochter Elena Nicolini gehört zu den schnellsten Frauen auf Tourenski. Vater Franco Nicolini bestieg im Jahr 2008 alle 82 Viertausender der Alpen in 60 Tagen – ein Rekord. Der Abend verfliegt, während er erzählt, wie er und seine Seilpartner sich von der Barre des Écrins bis zum Piz Bernina carbeiteten. Oder wie seine Tochter und er nach einem langen Arbeitstag auf der Hütte im Schein der Stirnlampen auf die Campanile Basso kletterten.
Facebook für Bären
Am nächsten Morgen geht es an den Abstieg ins Tal. Der mag oft ein nötiges Übel sein, doch nicht im Val di Ceda. Franco Nicolini bezeichnet diesen Weg als »Strecke für Fortgeschrittene«. Zweifelsohne hat diese Route etwas von »Into the Wild«. Der obere Teil, in den Karten nicht einmal als Weg eingezeichnet, führt noch durch Felswildnis. Wasserrillen im Kalk laden zu ein paar Kraxeleien mit Ausblick in Richtung Paganella ein. Doch langsam weicht das Grau der Landschaft zartem Grün mit Edelweiß als hellen Tupfern dazwischen.
Wo allmählich die ersten Latschen und Bäume auftauchen, ist an diesem Tag das Arbeitsgebiet von Matteo Zeni. Der Ranger des Naturparks Adamello-Brenta sucht und dokumentiert Bärenspuren. »Etwa 50 Tiere leben in der Region«, sagt er. Wenn Zeni anfängt zu erzählen, hängt sein Publikum bald an seinen Lippen – wie bereits zuvor bei den Alpinisten Taylor und Cornella. Auch die Bären haben laut Zeni bergsteigerische Qualitäten: Wenn junge Männchen auf Erkundungstour durch die Alpen gehen, absolvieren sie in wenigen Stunden 1000-Meter-Anstiege, überqueren Gletscher und Felsen im II. und III. Schwierigkeitsgrad. Doch für gewöhnlich leben sie im Wald. Der Ranger deutet auf einen völlig abgeschabten Baum. »Das ist das Bären-Facebook«, sagt er. Kratzer am Stamm sind die Postings der Tiere. Sie nutzen den gleichen Weg wie die wenigen Bergsteiger im Tal, denn darüber und darunter liegen Felsabbrüche. Noch eine ganze Weile windet sich der Pfad durch knorrigen Wald, bevor er Alpgelände erreicht. Zum Abschluss leiten die drahtseilgesicherten Serpentinen des Sentiero Donini an den Lago di Molveno. Hier, 2300 Meter unter der Cima Tosa, liegt der beschauliche Mittelpunkt zwischen zwei Welten, die kaum unterschiedlicher sein könnten.
BÄRENLAND TRENTINO
Obwohl die Menschen die Bären im Alpenraum im 19. Jahrhundert stark bejagten, überlebte eine Population im westlichen Trentino. Über die Jahre hinweg fand ein Umdenken sta£: Um den Genpool wieder aufzufrischen, wurden Bären aus Slowenien in die Region gebracht. Heute leben dort wieder rund 50 Tiere. Trotzdem polarisiere das Thema noch immer, sagt Naturpark-Ranger Matteo Zeni. Schlagzeilen machte ein Fall vor zwei Jahren, als eine Bärin einen Jogger schwer verletzte. Zeni betont jedoch, dass wenig Gefahr von den Tieren ausgeht, da sie Menschen meiden. Wer sich auf Tour also in normaler Lautstärke unterhält, signalisiert Meister Petz seine Anwesenheit, sodass dieser ausweichen kann. Was Nahrung betrifft, seien Bären Opportunisten. Sie jagen selten und wenn dann nur leichte Beute. Aggressiv werden sie, wenn sie sich oder ihre Jungen bedroht sehen. Wer einem Bären begegnet, sollte ruhig bleiben, nicht schreien und sich nicht hektisch bewegen, sondern langsam zurückweichen und das Tier im Blick behalten.
BASISWISSEN
Tourenparadies Brenta
WIE ANKOMMEN?
Mit der Bahn geht es direkt von München via Innsbruck nach Trient. Andalo und Molveno sind von dort mit dem Bus erreichbar. Autofahrer gelangen über den Brenner in das Trentino.
WO WOHNEN?
Hochgelegene Stützpunkte für alle Touren nahe der Cima Tosa sind die Hü£en des Club Alpino Italiano (CAI), das Rifugio Agostini und Rifugio T. Pedro£i. Zur Agostini-Hütte (2405 m) geht es von San Lorenzo in Banale: entweder in vier Stunden zu Fuß oder nach einer Fahrt mit dem Jeep-Taxi zur Berghütte Cacciatore in rund eineinhalb Stunden; www.rifugioagostini.com
Zum Rifugio T. Pedro£i (2491 m) führen verschiedene Wege von Molveno. Die Aufstiege nehmen dabei zwischen dreieinhalb und fünf Stunden in Anspruch. Der längste und anspruchsvollste Weg führt durch das Val di Ceda; www.rifugiotosapedrotti.it
Im Tal gibt es zahlreiche Hotels und Apartments in allen Preisklassen sowie Campingplätze in Andalo und Molveno.
WO ANKLOPFEN?
Tourismusbüros Dolomiti Paganella, www.visitdolomitipaganella.it
Tel. in Andalo: 00 39/04 61/58 58 36 und in Molveno: 00 39/04 61/58 69 24
NICHT VERSÄUMEN!
Ein Besuch von Molveno – oder noch besser ein Bad im gleichnamigen Lago. Der See lässt sich auf einem rund zwölf Kilometer langen Rundweg umwandern. Eine lohnende Bikestrecke führt von Andalo an das Gewässer.
MEHR ERFAHREN!
Bergsteiger Special 20: Trentino, Bruckmann Verlag, München 2014
SICH ORIENTIEREN
4Land Karte 1:25 000, Bla£ 139 »Brentagruppe«; Kompass Karte 1:50 000, Bla£ 683 »Trentino«
Informationen auch unter: www.bergsteiger.de
Fotos:Trentino Marketing/Filippo Frizzera, Frank Eberhard
Erschienen im Bergsteiger 5/2017
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