Grenzenlos
Über dem Hintersteiner Tal wird der Grenzgänger-Weg in Zukunft eine Menge klassischer Gipfel verbinden. Schon jetzt sind diese Berge einen Besuch wert.
Fiinden die Finger zwischen Gras und Geröll Fels, dann hält er – meistens. Das provoziert zweierlei Reaktionen: Der Münchener wundert sich am Steig durch die Nordflanke des Wiedemerkopfs über Bruch. Der Allgäuer freut sich an der gleichen Stelle über festen Fels. Auch die Drahtseile, die den Anstieg an mancher Stelle entschärfen, hängen hier und da durch. Willkommen in den Bergen über Hinterstein. Das Seitental zwischen den Touristenhochburgen Oberstdorf und Tannheim in Tirol liegt zwischen den Welten: Es lebt zum Teil vom Tourismus. Doch wer nach Hinterstein fährt, schätzt vor allem die Ursprünglichkeit der Berge. Zu dieser Janusgesichtigkeit passt das neue touristische Großprojekt Hintersteins: der Grenzgänger-Weg.
Entstehen soll er in den nächsten Jahren. Der Clou dabei ist, dass er bestehende Wege zu einer sechstägigen Trekkingtour entlang des Grenzkamms zwischen Deutschland und Österreich verbindet. „Es soll ein hochalpiner Weg für ambitionierte Wanderer werden“, sagt Max Hillmeier, Tourismusdirektor aus dem nahen Bad Hindelang, zu dem Hinterstein zählt. Einheitliche Schilder wollen die Touristiker der Tour schon in diesem Sommer verpassen. Einbeziehen soll sie dabei fast alle klassischen Anstiege auf der Ostseite des Tals – eben dort, wo die Grenze verläuft.
Los geht es allerdings nördlich von Hinterstein, in Schattwald im Tannheimer Tal. Bei Bedarf erspart die Wannenjochbahn gleich 450 Höhenmeter. Mit dem charmanten Namen „Bschießer“ bezirzt dort ein genau 2000 Meter hoher Berg: ein grober Klotz mit scheinbar nicht enden wollender Westabdachung. Er entsendet steile Felsrinnen in Richtung Tannheimer Tal. Im Winter wagen sich ambitionierte Skitourengänger in diese Nordwandrinnen. Jetzt, im Frühsommer, hält sich der Altschnee dort hartnäckig. Ganz anders auf der Südseite: Dort verwöhnt ein Kletterklassiker im VI. Grad sonnenhungrige Vertikalisten. Wie bei so vielen anderen Bergen im Allgäu verläuft die Grenze auch hier über die höchsten Punkte des Kamms. Das Kuriosum ist allerdings: Das deutsche Hinterstein liegt im Süden und das Tiroler Schattwald im Norden.
Wer für eine Tagestour auf den Bschießer will, wählt besser Hinterstein als Ausgangspunkt. An der Kirche startet ein Steig, der gleich durch steilen, schattigen Wald hinaufführt. Er passiert einen eleganten Wasserfall und führt auf gewellte Hochflächen. Murmeltiere pfeifen um die Wette und in ihrem Revier liegt die Zipfelsalpe. Die urgemütliche Hütte liegt zwischen Bschießer und dem per Seilbahn erschlossenen und mit Sportklettersteig durchzogenen Iseler. Die Allgäuer Originale Marga und Christoph Brutscher bewirten die Alpe seit 1976. Die Hütte bietet zwar keine Übernachtungsmöglichkeiten und auch die Speisekarte kann nicht mit denen der großen Hütten mithalten, dafür hat sie sich den Charme bewahrt, der zum Hintersteiner Tal passt.
Auch darüber, wie sich Hinterstein entwickelt, wird hier oben diskutiert. Einer der größten Brennpunkte ist dabei das geplante Wasserkraftwerk Älpele. Im Naturschutzgebiet Allgäuer Hochalpen soll künftig die Ostrach Turbinen für das öffentliche Stromnetz antreiben – nahe des bereits bestehenden Kraftwerks Auele. Wie immer in regionalpolitischen Fragen, untermauern beide Seiten ihre Positionen mit vielen Argumenten. Spannend ist die Angelegenheit auch für Bergfreunde. Denn der Alpenverein wollte Hinterstein nach Ramsau im Berchtesgadener Land zum zweiten Bergsteigerdorf in Deutschland ernennen. Nach österreichischem Vorbild soll das Siegel alternativen und naturnahen Tourismus auszeichnen. Doch wegen des geplanten Kraftwerks verleiht der Verein es vorerst nicht. Rudi Schweiger wandert öfter zur Zipfelsalpe. Er sagt, dass die Mehrheit der Hintersteiner das Thema Bergsteigerdorf postitiv sieht. Doch am Wasserkraftwerk scheiden sich im Ort die Geister. Obwohl die Frage um das kalte Wasser der Ostrach die Gemüter erhitzt, bleibt Tourismusdirektor Hillmeier gelassen. Zwar bedauert er die Entscheidung: „Die Auszeichnung hätte gut zum Grenzgänger-Weg gepasst.“ Doch er sieht auch eine interessante Grundsatzdebatte über regenerative Energien in Naturschutzgebieten.
Mit all diesen politischen Fragen im Kopf geht es von der Alpe über saftige Wiesen und über die steinige Westabdachung zum Bschießer. Dabei gibt es kaum Gegenverkehr. Denn wer auf den Bschießer wandert, hängt meist den Ponten (2045 m) dran und steigt über die Willersalpe wieder ins Tal ab. Die Tour lässt sich über das Gais- und Rauhhorn verlängern. Doch dazu später. Steile Serpentinen führen in einen breiten Sattel und in mäßiger Steigung geht es zum felsigen Ponten. Ein etwas ausgesetzter Abstecher leitet zum Gipfelkreuz, das auf einem Kopf sitzt, der sich gegen das Tannheimer Tal schiebt. Wer zur Willersalpe absteigt, wird unten auf einen der Bertele-Brüder treffen. Seit die drei die Hütte 1999 gekauft haben, leben sie mit ihren Familien im Sommer auf der altehrwürdigen Alpe inmitten eines grünen Kessels. Noch heute versorgt Stefan Bertele die Alpe mit Eseln und Haflingern.Wie auch auf der Zipfelsalpe hätte hier niemand etwas dagegen, würde Hinterstein den Titel Bergsteigerdorf tragen. Auch das erste Nachtlager auf dem neuen Grenzgänger-Weg zu stellen, ist Stefan Bertele recht. „Ich hoffe aber, dass nicht zu viele kommen“, sagt er, während er sich eine Zigarette dreht. Er macht nicht den Eindruck, als wäre er burnout-gefährdet. „Nicht, dass es so voll wird wie in Oberstdorf oder Bad Hindelang“, schiebt er in ruhigem Ton hinterher und zieht an der Selbstgedrehten.
Welche Aufgaben auf die Wegbereiter des Grenzgänger-Wegs zukommen, verdeutlicht die Überschreitung von Rauh- und Gaishorn. Beide Berge stechen bereits bei der Anfahrt ins Auge. Vor allem das Gaishorn wirkt von Norden aus wie ein breites Dach. Auf seiner Nordseite führt ein gutmütiger Grat zum vorgelagerten Gaiseck. Es macht Spaß über den – für Allgäuer Verhältnisse – festen Fels zu turnen. Immer wieder machen dabei auch die Hände Bekanntschaft mit dem rauen Kalk. Drahtseile erleichtern es, eine Art Kamin zu überwinden. Ein paar Farbmarkierungen hier und da und fertig ist das Stück des Grenzgänger-Wegs. Beim Abstecher über den breiten Grat zum Gipfel zieht das Rauhhorn die Aufmerksamkeit auf sich. Wie ein zu Fels erstarrter Irokese steilt sich der Berg auf. Dort oben ist garantiert weniger los als auf dem gut besuchten Gaishorn, wo sich ein Pärchen ausruht, das vom Rauhhorn kommt. Er ist zufrieden, sie schweißüberströmt. „Ich bin froh, dass ich noch lebe“, sagt sie. Ärger liegt in der Luft. Wer den Selbstversuch wagt und das Rauhhorn überschreitet, kann die Reaktionen nachvollziehen: Bergsteiger, die sich gern im II. Schwierigkeitsgrad bewegen, haben auf dem teils ausgesetzten Grat ihren Spaß. Wanderer fühlen sich dagegen in diesem Gelände nicht mehr wohl. Deshalb führt der beliebte Jubiläumsweg unterhalb des Rauhhorns vorbei. Doch ein neuer, offensiv vermarkteter Mehrtagestrek auf dieser Linie würde wohl auch der Überschreitung des Rauhhorns mehr Publikum bescheren. Trotzdem will Tourismusdirektor Hillmeier solche alpinen Ziele am Wegesrand „nicht zu Autobahnen ausbauen“.
Wie wichtig das ist, zeigt ein Abstecher zum nächsten Gipfel in Richtung Süden: Tausende Wanderer lassen das Kugelhorn (2126 m) auf dem Weg zum malerisch gelegenen Schrecksee im Wortsinn links liegen. Mit ein wenig Gespür für das Gelände lässt sich der Aufstieg über steile Wiesen gut finden. Das Gipfelbuch ist über zwanzig Jahre alt, verdient in einer so gut erschlossenen Gegend also schon fast das Prädikat antik. Ein breiter Weg und Stufen würden diesen Geheimtipp schnell zu einem weiteren leicht erreichbaren Wanderberg machen. Weglos können Sammler noch den Knappenkopf (2071 m) dranhängen, bevor sie erneut durch steiles Gras zum Schrecksee absteigen.
Im Süden protzt der Hochvogel (2593 m). Er stiehlt allen anderen die Schau: eine massige Pyramide, flankiert von zwei Felsspitzen, die an angewinkelte Flügel eines Vogels erinnern. Doch der Berg kündigt eine Veränderung an: Ein riesiger Riss durchzieht seinen Gipfel und wächst seit Jahren zusehends. Geologen befürchten, dass ein Teil der Gipfelfelsen ins Tal krachen wird. Aus Sicherheitsgründen haben die Tiroler Behörden den schönen Südanstieg, den Bäumenheimerweg, bis auf Weiteres gesperrt. Schade, doch die Natur lässt nunmal nicht mit sich verhandeln.
Die Bedrohung am Hochvogel hat auch Auswirkungen auf die Grenzgänger-Planungen. Nachdem der Trek vom Schrecksee via Jubiläumsweg zum Prinz-Luitpold-Haus am Hochvogel führt, wird er den Wiedemerkopf mit seinem reizvollen Nordanstieg passieren. Weiter geht es hinauf zum Himmelecksattel zwischen Allgäuer Paradebergen: im Norden der Schneck, der mit Steilgrasflanken und äußerst luftigem Gipfelgrat der berühmten Höfats ziemlich Konkurrenz macht. Im Süden präsentiert sich das Wildenmassiv als anspruchsvolles Ziel für alle Jahreszeiten: mit seinem plattigen Nordgrat (II), der Wildenverschneidung (VIII) oder als rassige Ski- und Firngleitertour. Einen Übergang in das ruhige Jochbachtal, das bereits Teil des Lechtals ist, finden Wanderer südlich der Wilden, am Hornbachjoch. Nach einer Nacht im Ort Hinterhornbach direkt über den Hochvogel wieder ins Hintersteiner Tal zu steigen, ist vorerst ja nicht mehr möglich. Somit wird der Pfad durch den Fuchsensattel zum Kalten Winkel und zum Prinz-Luitpold-Haus eine Renaissance erleben.
Zurück im Tal, am Giebelhaus, zeigt sich das Allgäu wieder von der grünen Seite. Die Landschaft setzt erfrischende Kontraste zur Felswüste am Hochvogel. Doch die nächste öffentliche Straße liegt immer noch über acht Kilometer entfernt. Auch das hilft, den Charakter des Hintersteiner Tals zu erhalten: Nur Busse, Einheimische mit Sondergenehmigung und natürlich Radler dürfen in die Tiefen des Tals fahren. In Hinterstein soll der Mehrtages-Trek aber noch nicht zu Ende sein. Zum Auslaufen wird der letzte Tourentag dienen: Nun führt auch der Grenzgänger-Weg über die Zipfelsalpe, es geht von hinten auf den Iseler (1876 m) und dann über den mehr als gut gesicherten Grat des Kühgundrückens entlang einer alten Schmugglerroute zurück nach Schattwald. Mit jedem Meter entfernt sich dieser Steig vom Hintersteiner Tal, das so viele Bergsteigerziele bietet. Und dabei wird sich der Grenzgänger-Weg nur an der Ostseite entlangschlängeln.
Im Westen liegen weitere Klassiker wie der Hindelanger Klettersteig vom Nebelhorn zum in der Nordansicht stets gedrückten Großen Daumen. Wofür drücken die Allgäuer Alpen diesen überdimensionalen Daumen? Hoffentlich dafür, dass der Fels hält, am Gipfel des Hochvogels, wie auch an den anderen Bergen für alpine Grenzgänger.
Stilles Oberallgäu – das Hintersteiner Tal
Das Hintersteiner Tal versteckt sich etwas zwischen Oberstdorf im Südwesten und dem Tannheimer Tal im Nordosten. Im Osten verläuft die Grenze zu Tirol. Die meisten Berge über Hinterstein sind nach wie vor ursprünglich und bieten alpine Anstiege. Seilbahnen gibt es in diesem Tal nicht.
INFO Tourist Information Bad Hindelang, Unterer Buigenweg 2, 87541 Bad Hindelang, Tel. +49 8324 8920, badhindelang.de
ANREISE Mit dem Auto über die A 7 und B 19 nach Hinterstein. Mit der Bahn nach Sonthofen und mit dem Bus über Bad Hindelang nach Hinterstein.
HÜTTEN Willersalpe, 1456 m, privat, bewirtschaftet von 1. Mai bis 1. November, Tel. +49 171 9939847, hinterstein.de/partner/willersalpe ;
Prinz-Luitpold-Haus, 1846 m, DAV Sektion Allgäu-Immenstadt, von Anfang Juni bis Anfang Oktober bewirtschaftet, prinz-luitpoldhaus.de
EINKEHR Zipfelsalpe, 1526 m, von Pfingsten bis Allerheiligen, Tel. +49 151 16708513;
Giebelhaus, 1065 m, im Sommer von 1.5. bis 6.11. geöffnet, Tel. +49 8324 8146, giebelhaus.de
BERGBAHN Im Tal selbst keine Bahn; Wannenjochbahn im Tannheimer Tal, täglich bei trockenem Wetter von 8 bis 16 Uhr in Betrieb, Tel. +43 5675 6260, tannheimer-bergbahnen.at
WANDERBUS Bus zum Giebelhaus, wechs.net/busverkehr
BERGFÜHRER Hindelanger Bergführerbüro, Hauptstraße 28, 87541 Vorderhindelang, Tel. +49 8324 953650, bergschulen.de
LITERATUR Gaby Funk: Allgäu: Höhen, Gipfelziele, Klettersteige, Bruckmann Verlag, 2008;
Dieter Seibert: Alpenvereinsführer Allgäuer und Ammergauer Alpen, Bergverlag Rother, 2013.
KARTEN Kompass, 1: 50 000, Blatt 3, Allgäuer Alpen – Kleinwalsertal;
Alpenwelt Verlag, 1: 35 000, Wanderkarte Tannheimer Tal.
AUSRÜSTUNG In der Regel reicht Wanderausrüstung, Klettersteigset und Helm können bei einigen Touren sinnvoll sein.
ALPIN-TIPP Aus dem Hintersteiner Tal lassen sich im Frühsommer Ziele bei unterschiedlichsten Bedingungen erreichen: Während der südseitige Anstieg zu Beschießer und Ponten früh ausapert, können am Großen Wilden noch Skitourengeher unterwegs sein.
Hüttencheck
Willersalpe, 1456 m, privat
KONTAKT Stefan, Christian und Markus Bertele, Tel. +49 171 9939847, hinterstein.de/partner/willersalpe
GEÖFFNET Von 1. Mai bis 31. Oktober.
SCHLAFEN 30 Lager.
ESSEN Einfache Speisen, die Hütte wird noch immer mit Eseln und Haflingern versorgt.
KOMFORT Rustikale und dunkle Hütte, die an vergangene Zeiten erinnert.
ALPIN-FAZIT Der Aufenthalt auf der Willersalpe ist wie eine kleine Zeitreise.
Informationen auch unter: www.alpin.de
Zur Website des Fotografen Hans Herbig: www.hansherbig.photoshelter.com
Fotos: Hans Herbig
Erschienen im Juliheft von Alpin
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